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2. Die Option der Südtiroler als ein Beispiel für erzwungene Migration im 20.Jahrhundert

Am 23. Juni 1939 wurde in Berlin zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland eine Vereinbarung getroffen, die die Totalumsiedlung der Südtiroler in noch zu erobernde Gebiete im Osten Europas festsetzte. Nur ein halbes Jahr hatten die Südtiroler Zeit, sich für oder gegen die Umsiedlung zu entscheiden. Dieser Entscheidungsprozess trieb einen großen Keil zwischen die Südtiroler Menschen – oft zerriss er ganze Familien – es wurde heftig um das scheinbar Bessere gerungen. Narben aus dieser Zeit des Zwistes waren noch lange in der Südtiroler Bevölkerung spürbar.

Die Nationalsozialisten starteten eine riesige Werbekampagne, um die Südtiroler zur Umsiedlung zu animieren, damit die Südtiroler Bevölkerung „optierte“. Gezielt wurden Lügen verbreitet, die Menschen gegeneinander aufgehetzt. Bald schon ging ein Riss durch die Südtiroler Bevölkerung – die Gräben zwischen Umsiedlungswilligen und solchen Menschen, die im Land bleiben wollten, waren für lange Zeit unüberbrückbar. Der größte Teil der Südtiroler entschloss sich für die Umsiedlung. Letztendlich waren es 75 000 Menschen, die in die Fremde gingen.


Werbung für das Weggehen und das Bleiben –Eine Gegenüberstellung von zwei Flugblättern aus dem Jahr 1939

Dafür oder Dagegen? Ausschnitte aus zwei Flugblättern

Die Propaganda für das Umsiedeln oder das Bleiben in Südtirol war für die Menschen vom Juni 1939 bis zum Dezember 1939 fast unerträglich. Sie wurden mit Argumenten dafür oder dagegen geradezu bombardiert. Die Nationalsozialisten vor allem versuchten, die Südtiroler durch eine riesige Kampagne zum Umsiedeln zu bewegen.

Hier werden Ausschnitte aus zwei Flugblättern präsentiert, wie sie den Menschen von entsprechenden Vereinen in die Hände gegeben wurden.

Ein Optantenflugblatt, Herbst 1939:

Südtiroler!

Die Propaganda der sogenannten „Hierbleiber“, jener also, die freiwillig und blind ihre Zustimmung zur Verwelschung unseres Volkstums geben, geht weiter. Es geht ihnen nicht in den Sinn, dass es eine Heimat ohne Pflege ureigensten nationalen Wesens (…) nicht gibt. Volksfremde Elemente, Emigranten, Aristokraten und verhetzte Geistliche bilden die saubere Gesellschaft, die heute die Heimatliebe predigen. (…) Geldprotzen, die fürchten dem Reich am Ende ein paar Lire opfern zu müssen, sagen:“Geht nicht, draußen ist Krieg! Kriegsfolgen sind Umsturz und Entwertung des Geldes, das ihr für euren hier verkauften Besitz noch gut habt.“ Ja, sind wir Südtiroler von 1939 Feiglinge geworden, die den Krieg fürchten und das Opfer für unser Vaterland? (…) Es heißt „Im Reich sei keine Religion“. Man ist im Reich gegen das scheinheilige, politisierende Priestertum, das aus weltlicher Machtgier das nationale Deutschland hasst und jenes Judentum, das Christus, unseren Herrn, gekreuzigt hat, in Schutz nimmt, wo es nur kann. Das Gebot der Nächstenliebe und die 10 Gebote sind im deutschen Reich geradezu Staatsgrundgesetze. (...)

Quelle: In gekürzter Form aus: Kirchler und Tasser, Die Option. Unterrichtseinheit für die Oberschule, Bozen, 1989

Zum leichteren Verständnis:

Hierbleiber waren jene Südtiroler, die sich gegen das Umsiedeln aussprachen.

Verwelschung war der Tiroler Begriff für die Italianisierung.

Ein Dableiber – Flugblatt aus dem Herbst 1939:

Vor der Entscheidung bedenke!

(...)

2. Man sagt uns: alle deutsch melden und dann bleiben! Zur gleichen Zeit aber schreiben die Innsbrucker Nachrichten, dass für uns schon Häuser gebaut werden! Wozu Häuser, wenn wir bleiben? Zuerst hat man uns gesagt, wir kommen nach Salzburg, nach Burgenland, nach Polen – jetzt auf einmal sollen alle Südtiroler in Nordtirol Platz haben? Wie geht das? Sicher aber ist: wer unterschreibt und die deutsche Staatsbürgerschaft annimmt, der muss das Gebiet (=Südtirol) verlassen.

(...)

6. Wenn wir die Heimat verlassen, wird unser Volk nicht mehr bestehen! Nirgends mehr! Geschlossene Siedlung? Das ist unmöglich. Wo keine Menschen sind, bleiben auch wir nicht, und wo Menschen sind, werden sie uns nicht ohne weiteres ausstellen! Alte und kranke Leute sterben lieber in der Heimat als in die Fremde zu wandern. (…)Bei vielen Bauern ist die Liebe zum Boden und Religion größer als nationale Gründe! Sie bleiben. Arbeiter gehen weiter in die Fabriken. Nur wenige arme Südtiroler werden (…) in Polen wohnen, neben fremden Völkern, bald wieder heimatlos!

7. Einen Hof, der mir hier auf rund 100 000 Lire geschätzt wird, werde ich im Reich kaum unter 100 000 Mark bekommen, aber 100 000 Lire sind nicht einmal 25 000 Mark, und dafür bekomme ich nur eine Hütte! Es ist ja Krieg draußen! Und da will keiner Papiergeld, sondern Grund und Boden!

(....)

10. Treue ist Tiroler Brauch! Treu der Heimat, treu dem Herrgott, bis zum Tod! Denk an die Stunde, wo du das Kreuz vom Herrgottswinkel deiner alten Stube nimmst, wo du die Haustür sperrst für immer! Denk an die Stunde, wo du zum letzten Mal dein Heim, deine Felder und Wiesen betrachtest, denk an diese schwere Stunde – dann gehe hin und entscheide dein und deiner Kinder Schicksal und Zukunft!

Wähle zwischen Heimat und Fremde!

Quelle: In gekürzter Form aus: Kirchler und Tasser, Die Option. Unterrichtseinheit für die Oberstufe, Bozen, 1989.

Fragen

  1. Was bedeutet das Wort OPTION? Suche eine Erklärung in einem Lexikon/Wörterbuch.
  2. Lies die beiden Flugblätter durch und ergänze den Raster:
    Optantenflugblatt (Für das Umsiedeln) Dableiber-Flugblatt (Für das Bleiben)
    Wie verhalten sich „Volk und Heimat“ nach der Meinung der beiden Gruppen?
    Wer sind nach Meinung der Flugblattschreiber die Anhänger der jeweils anderen Gruppe?
    Wie wichtig ist der jeweiligen Gruppe Besitz und Vermögen?
    Wie ist die Stellung der Religion im Deutschen Reich?
  3. Eines der beiden Flugblätter ist ein treffendes Beispiel für eine Negativkampagne – stellenweise ein Beispiel für das „Dirty campaigning“. Welches ist es?
    Was versteht man unter „Negativkampagne“ und unter „Dirty campaigning“?
  4. Welche Gruppe hat deiner Meinung nach die besseren Argumente?

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Beschreibung und Analyse

Die Option – das heißt die von Mussolini und Hitler beschlossene Absiedlung der deutschsprachigen Südtiroler–war ein politischer Akt, den wir heute als eine ethnische Säuberung bezeichnen würden. Im Juni 1939 bestimmten die beiden Diktatoren, dass die Südtiroler aus ihrer angestammten Heimat, in der ihre Vorfahren jahrhundertlang gelebt hatten, verjagt werden sollten, weil sie nicht mehr in die faschistische Vorstellung einer geschlossenen italienischen Nation passten (Hitler-Mussolini-Abkommen).

„Heim ins Reich“ war die Losung der Nazis, mit der sie 1938 Österreich und die böhmischen Gebiete besetzten. Hitler wollte seinen Verbündeten Mussolini aber nicht vor den Kopf stoßen und verzichtete auf die Annexion Südtirols. Das Land bei Italien zu belassen, aber die „Menschen zu versetzen“ war 1939 das Gebot der Stunde.

Die Nationalsozialisten begannen eine ungeheure Werbekampagne, um die Bevölkerung Südtirols zum Umsiedeln zu bewegen. Die Menschen hatten sechs Monate Zeit, sich für oder gegen das Weggehen zu entscheiden.

Werbung für das Weggehen und das Bleiben –Eine Gegenüberstellung von zwei Flugblättern aus dem Jahr 1939

Was sprach für viele Südtiroler für das Umsiedeln?

  • Die Nationalsozialisten versprachen den Südtirolern ein geschlossenes Siedlungsgebiet – was aber noch zu erobern war- und das Mitspracherecht der Südtiroler Vertreter bei der Auswahl dieses Siedlungsraumes.
  • Viele Südtiroler wollten auch ganz gezielt der Politik Mussolinis entgehen, die ja auf eine konsequente Italianisierung Südtirols abzielte.
  • Es gab unter den Südtirolern sicher auch einen gewissen Prozentsatz von Menschen, die der nationalsozialistischen Ideologie anhingen und es bevorzugten, in einem nationalsozialistischen Land zu leben.
  • Auch war die Angst groß, von den Faschisten aus Südtirol weggejagt und nach Sizilien umgesiedelt zu werden. Eine Angst, die unbegründet war, von den Werbern für das Umsiedeln aber geschürt wurde.

Was sprach für das Verbleiben im Land?

  • Es waren vor allem die besitzenden Südtiroler, die das Land nicht verlassen wollten, da unklar war, wer ihnen ihren Grund und Boden ablösen sollte: Italien oder das Deutsche Reich?
  • Vor allem die einfachen Geistlichen sprachen sich zuerst für ein Bleiben aus, da sie mit der Vertreibungs- und Vernichtungspolitik der Nazis nicht einverstanden waren. Die hohe Geistlichkeit jedoch schloss sich den Optanten – so wurden die Umsiedlungswilligen genannt – an, und verboten gegensätzliche Meinungen im Klerus.

Von deutscher Seite war Heinrich Himmler für die Durchführung der Option zuständig. Er ließ eine ungeheure Werbekampagne auf die Südtiroler einwirken. Vor der gezielt gestreuten Lüge und vor argen Drohungen wurde nicht zurückgeschreckt. Die Menschen wurden auf diese Weise so verhetzt, dass manche auch vor tätlichen Übergriffen nicht Halt machten. Verleumdungen gegen die „Dableiber“ wurden ständig gestreut.

Die Daten des „Wahlergebnisses“ wurden unterschiedlich verlautbart: 86% nach deutschen und 72% nach italienischen Angaben optierten für das Umsiedeln in das Deutsche Reich.

Antworten

  1. Option – mehrere Worterklärungen sind möglich.
  2. OptantenflugblattDableiber-Flugblatt
    Volk und HeimatEs gibt keine Heimat ohne Pflege des nationalen Wesens (=zum Beispiel Kultur und Sprache).Wenn das Land verlassen wird, hört das Volk auf zu bestehen.
    Wer sind die Befürworter der jeweils anderen Gruppe?Volksfremde Elemente (!), Emigranten, Aristokraten, verhetzte Geistliche, Reiche würden für das Dableiben werben. Feiglinge, die nicht für Deutschland kämpfen wollten wären auch dabei.Die arme Bevölkerung;
    Nazis
    Wichtigkeit des Besitzes und die Zukunft des VermögensBesitz ist nicht so bedeutsam – das Opfer für das Vaterland ist wichtiger.Der Besitz wird weitgehend durch Inflation verlorengehen, da die Preise für Grund und Boden im Deutschen Reich wegen des Krieges stark angezogen haben.
    Stellung der Religion im Deutschen Reich nach Meinung der jeweiligen GruppierungGegen politisierende Geistliche, die Stellung für die Juden beziehen.
    Nächstenliebe und die 10 Gebote würden vom Staat überaus geschätzt.
    Es gibt keine Aussage über das 3. Reich und die Religion.
    Religionsausübung wird von dieser Gruppe eher „heimatbezogen“ gesehen.
  3. Das Optantenflugblatt arbeitet ganz besonders mit dem Schlechtmachen der anderen Gruppe. Es macht Stimmung und bietet nicht viele Sachargumente. Wörter wie „volksfremde Elemente“ oder „Geldpotzen“ werden verwendet.