Der folgende Text ist ein Auszug aus einem Brief, den Thomas Mann am 3. 2. 1936 in der Zürcher Zeitung veröffentlichte. Es handelt sich um den ungekürzten Schluss des Briefes:
„Man ist nicht deutsch, indem man völkisch ist. Der deutsche Judenhass aber, oder derjenige der deutschen Machthaber, gilt, geistig gesehen, gar nicht den Juden oder nicht ihnen allein: er gilt Euro¬pa und jedem höheren Deutschtum selbst; er gilt, wie sich immer deutli¬cher erweist, den christlich-antiken Fundamenten der abendländischen Gesittung: er ist der (im Austritt aus dem Völkerbund1 symbolisierte) Versuch einer Abschüttelung zivilisatorischer Bedingungen, der eine furchtbare, eine unheilschwangere Entfremdung zwischen dem Lande Goethes und der übrigen Welt zu bewirken droht.
Die tiefe, von tausend menschlichen, moralischen und ästhetischen Einzelbeobachtungen und –eindrücken täglich gestützte und genährte Überzeugung, daß aus der gegenwärtigen deutschen Herrschaft nichts Gutes kommen kann, für Deutschland nicht und für die Welt nicht, - diese Überzeugung hat mich das Land meiden lassen, in dessen geistiger Überlieferung ich tiefer wurzele als diejenigen, die seit drei Jahren schwanken, ob sie es wagen sollen, mir vor aller Welt mein Deutschtum abzusprechen. Und bis zum Grunde meines Gewissens bin ich dessen sicher, daß ich vor Mit- und Nachwelt recht getan, mich zu denen zu stellen, für welche die Worte eines wahrhaft adeligen deutschen Dichters gelten:
‚Doch wer aus voller Seele haßt das Schlechte,
Auch aus der Heimat wird es ihn verjagen,
Wenn dort verehrt es wird vom Volk der Knechte.
Weit klüger ist’s, dem Vaterland entsagen,
Als unter einem kindischen Geschlechte
Das Joch des blinden Pöbelhasses tragen.`“2
1 am 19. Oktober 1933 trat das nationalsozialistische Deutschland aus dem 1920 gegründeten Völkerbund aus; Deutschland war erst 1926 in den Völkerbund aufgenommen worden.
2 Auszug aus einem Gedicht von August Graf von Platen (1796-1835)
Präsentation
Representation: Der folgende Text ist ein Auszug aus einem Brief, den Thomas Mann am 3. 2. 1936 in der Zürcher Zeitung veröffentlichte. Es handelt sich um den ungekürzten Schluss des Briefes.
völkisch: nationalsozialistische Begriff, der die rassische Zugehörigkeit zu einem Volk bezeichnet (=Volksgemeinschaft). Der Begriff ist einerseits exklusiv, indem er „rassisch minderwertige“ Volksgruppen (z.B. die Juden) ausklammert. Andererseits suggeriert er, dass alle Teile der Volksgemeinschaft gewissermaßen gleichwertig seien, er verdeckt also propagandistisch gesellschaftliche Unterschiede und daraus resultierende unterschiedliche Interessen.